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Abhängigkeit, Rezeptoren und das gute Leben – wieso das Thema Abhängigkeit so komplex ist

Menschen werden drogenabhängig, weil sie Drogen nehmen. Der einfachste Weg, die Abhängigkeit zu besiegen, ist es, den Suchtstoff nicht mehr zu nehmen – so die Annahme. Was plausibel klingt, ist in Wirklichkeit weniger eindeutig. Was Abhängigkeit mit dem Gehirn anstellt.

Was würden Sie einer drogenabhängigen Person raten? Wahrscheinlich würde Ihre empfohlene Therapie in etwa so aussehen: Erst einmal soll die Person entgiften bis die Droge aus dem System ist. Anschließend soll sich die Person bemühen, ein drogenfreies Leben zu führen. Für diese Annahme gibt es vermeintlich gute Gründe. So wurden schon vor Jahrzehnten Experimente durchgeführt, die zu scheinbar eindeutigen Ergebnissen kommen.

Experiment soll Klarheit schaffen

In einem bekannten Experiment wurden Ratten neben ihrem normalen Wasser ein mit Drogen (Kokain, Heroin) angereichertes Wasser verabreicht. Gemessen wurde, wie sich das Verhalten der Ratten verändert. Es zeigte sich, dass die Ratten eifrig das Drogenwasser konsumierten, und dass sie kontinuierlich die Dosis erhöhten, bis sie eines Tages starben. Entzog man Ratten die Droge, zeigten sie die auch für Menschen typischen Entzugserscheinungen. Der Rückschluss scheint einleuchtend: Bringt man Menschen mit Drogen in Berührung, werden sie abhängig – Gelegenheit schafft Abhängigkeit [1]. In den Gehirnen der Ratten, so die Annahme, hat sich die Beschaffenheit der Rezeptoren derart verändert, dass sie nur durch Drogen stimuliert werden können – eine Basis der körperlichen Abhängigkeit. Ähnlich verhalte es sich mit der Drogensucht von Menschen: Sind Menschen einmal abhängig, erhöhen sie kontinuierlich die Dosis. Nur Entzug schaffe Abhilfe. Doch ist die Datenlage weniger klar, als es auf den ersten Eindruck scheint.

Experiment mit erheblichen Mängeln

Denn im oben beschriebenen Experiment gibt es ein Problem: Die Ratten waren alleine in ihren Käfigen. Sie lebten ein Leben in Isolation und Einsamkeit. Wenn man weiß, dass Ratten normalerweise durchaus gesellige Tiere sind, ist es wenig verwunderlich, dass das Bedürfnis, ihren Geist durch Drogen zu betäuben, groß war.

Wenn die soziale Isolation tatsächlich ein Faktor ist, der das Ergebnis verfälscht, sollte eine der Natur der Ratten entsprechende Umwelt die Drogensucht entschärfen. Folglich wurde ein neues Experiment aufgesetzt. Der bedeutende Unterschied bestand darin, dass die Ratten nicht alleine in einem tristen Käfig waren, sondern im Gegensatz in einem Käfig wohnten, der kaum Wünsche übrig ließ. Die Ratten hatten Spielzeuge, Auslauf, konnten Tunnel buddeln und hatten Spielgefährten. Wie würden die Ratten nun auf die Verfügbarkeit von Drogen reagieren? Auch in der neuen Umwelt probierten Ratten das Drogenwasser, schließlich wussten sie nicht, was darin enthalten war. Doch da endeten die Gemeinsamkeiten. Die Ratten konsumierten nur ein Viertel der Menge an Drogen, verglichen mit den Ratten in Einzelhaft. Noch entscheidender: Keine dieser Ratten starb [1]. Auch entwickelte keine Ratte in diesem Experiment eine schwere Abhängigkeit. Eine gute Umwelt scheint demnach ein guter Schutz vor Abhängigkeit zu sein.

Ähnliche Beobachtung bei Menschen

Doch was passiert, wenn Ratten zunächst in Isolation abhängig gemacht werden und anschließend in die angenehme Umwelt entlassen werden? In einem weiteren Experiment wurde genau das untersucht. Dabei zeigte sich, dass die schwer abhängigen Ratten aus der Isolation ihren Konsum in der schönen Umwelt drastisch reduzierten. Zwar litten einige anfangs unter den typischen Entzugserscheinungen, nach kurzer Zeit führten die meisten Ratten jedoch ein Leben ohne Drogen.

Natürlich sind unsere Gehirne um ein vielfaches komplexer als die Gehirne von Ratten. Doch gibt es durchaus parallele Beobachtungen. Viele Soldaten im Vietnamkrieg nahmen regelmäßig Heroin, um den Horror des Krieges zu ertragen. Wäre einzig der Gebrauch der Droge ursächlich für die Abhängigkeit, so hätten die Soldaten ihre Sucht auch nach Ende des Krieges fortsetzen müssen. Doch das Gegenteil passierte. Laut einer Studie beendeten 95% der Soldaten die Einnahme von Heroin nach ihrer Rückkehr [2]. Ähnlich verhält es sich mit Patienten, die potentiell süchtig machende Schmerzmittel über einen längeren Zeitraum erhalten. Nach der Behandlung wird kaum einer dieser Patienten abhängig.

Weitreichende gesellschaftliche Implikationen

Die Annahmen, die wir über Drogenabhängigkeit besitzen, haben weitreichende Konsequenzen bei Gesetzgebung, Behandlung und gesellschaftlichem Umgang. Wenn es einer Gesellschaft tatsächlich darum geht, drogenabhängigen Menschen zu helfen, stellt sich die Frage, ob beispielsweise eine Haftstrafe die geeignete Form der Bestrafung für ein Drogendelikt ist. Ähnelt sie nicht in mancher Hinsicht der tristen Umwelt der Ratten in Isolation? Natürlich entscheiden viele Faktoren darüber, ob eine Person eine Drogenabhängigkeit entwickelt oder nicht. Auch ist der Umkehrschluss nicht zulässig, dass  Personen, die in eine Abhängigkeit geraten automatisch in einem unglücklichen Umfeld leben.

Eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Verfügbarkeit von Drogen scheint aus wissenschaftlicher Sicht indes aber eine verengte Sichtweise.  

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Quellen:

1: Alexander, B.K., Beyerstein, B.L., Hadawy, P.F., & Coambs, R.B. (1981). Effects of early and later colony housing on oral ingestion of morphine in rats. Pharmac. Biochem. Behav., 15(4), 571-576.

2: Robins, L.N., Helzer, J.E., Hesselbrock, M., & Wish, E. (2010). Vietnam Veterans Three Years after Vietnam: How Our Study Changed Our View of Heroin. The American Journal on Addiction, 19(3), 203-211

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