Ein Vorteil des Älterwerdens ist ein besseres Gedächtnis. Ja, Sie haben richtig gelesen, entgegen der verbreiteten Annahme, kann das Gedächtnis im Alter sogar besser werden. Über die Stärken und Schwächen des alternden Gehirns.
Dass wir als Gesellschaft einem Jugendwahn verfallen sind, würde wohl kaum jemand abstreiten. Während Jugend mit Vitalität und Gesundheit gleichgesetzt wird, wird Älterwerden über die damit einhergehenden Defizite definiert. Schauspieler in Werbungen sind meist jung und gutaussehend, auch wenn das Produkt, das angepriesen wird, für ältere Jahrgänge gemacht ist; bei Bewerbungen werden nicht selten ältere Bewerber systematisch benachteiligt. Und wenn eine ältere Person gut aussieht, ist das „trotz“ ihres Alters so.
Gleichzeitig scharen sich die Massen vor den Fernsehern, wenn Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt seine Sicht der Welt preisgibt und seine Weisheit rauchend unter Beweis stellt. Wie passt der Widerspruch, dass Alter einerseits als Mangel und andererseits als Bereicherung wahrgenommen wird, zusammen?
Implizites vs. explizites Lernen
Die kanadische Forscherin Lynn Hasher geht dieser Frage seit Jahren in ihrer Forschung nach. Sie befasst sich insbesondere mit der Frage, wie sich Gedächtnisleistungen im Laufe des Lebens wandeln. Eine Studie aus dem Jahr 2013 gibt darauf spannende Antworten. An der Studie nahmen 38 jüngere und 40 ältere Versuchspersonen teil. Das Team um die Wissenschaftlerin Lynn Hasher ließ Studienteilnehmer an der Universität Toronto eine Liste von 16 Wörtern auswendig lernen. Im Anschluss wurden die Studienteilnehmer darum gebeten, nach Möglichkeit so viele der zuvor gelernten Wörter zu benennen.
Vermeintliche Ablenkung
Danach wurde Studienteilnehmern eine Zwischenaufgabe vorgegeben. Ihnen wurden nacheinander auf einem Computerbildschirm Bilder präsentiert. Bei jedem neu gezeigten Bild sollten sie angeben, ob es sich dabei um das gleiche Bild wie das zuvor gezeigte handelt. Am Rande des Bildschirms wurden zudem hin und wieder acht der zunächst gelernten 16 Wörter präsentiert. Die Studienteilnehmer erhielten jedoch die Aufgabe, sich nicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken zu lassen und folglich diesen Wörtern keine Bedeutung zu schenken. Danach sollten Studienteilnehmer erneut die Wörter benennen, die ihnen am Anfang des Experiments präsentiert wurden.
Unterschiedliche Stärken bei Jung und Alt
Die Ergebnisse zeigen unterschiedliche Leistungen bei Jung und Alt in den verschiedenen Aufgaben. Insgesamt schnitten die jüngeren Teilnehmer in den Erinnerungsaufgaben (sowohl direkt nach dem Einprägen als auch nach der Zwischenaufgabe) deutlich besser ab als die älteren. Ein anderes Bild zeigt sich jedoch, wenn nur die Erinnerungsleistung bei jenen Wörtern, die in der Zwischenaufgabe am Rande des Bildschirms präsentiert wurden, analysiert wird. Ältere Studienteilnehmer konnten sich an diese Wörter erheblich besser erinnern als die jüngeren. Das heißt, dass Ältere unabsichtlich gelernt haben. In der Wissenschaft spricht man bei dieser Art von Lernen von implizitem Lernen. Dem gegenüber steht das explizite Lernen, bei dem mit Absicht Informationen abgespeichert werden.
Lernen ohne zu lernen
Die Studie zeigt: Wenn die Aufgabe darin liegt, in kurzer Zeit Informationen aktiv zu lernen, sind jüngere Menschen überlegen. Beim im Alltag jedoch mindestens genauso wichtigen impliziten Lernen, schneiden ältere Menschen deutlich besser ab. Scheinbar erlernen Menschen im Laufe ihres Lebens die Gabe, Informationen ohne einen aktiven Lernprozess abzuspeichern. Möglicherweise ist die Überlegenheit jüngerer Menschen in konventionellen Gedächtnistests auch darauf zurückzuführen, dass sie es gewohnt sind, in Schule und Studium große Mengen an Informationen losgelöst vom Zusammenhang zu lernen. Die Forschungsergebnisse unterstreichen, wie kostbar die Kompetenzen älterer Menschen für eine Gesellschaft sind. Statt aufs Abstellgleis geschoben zu werden, sollten Menschen im Alter die Chance erhalten, ihre Vorteile gegenüber der Jugend auszuspielen.
Quellen:
1: Biss, R., Jan Ngo, K. W., Hasher, L., Campbell, K. L. & Rowe, G. (2013). Distraction Can Reduce Age-Related Forgetting. Psychological Science, 24(4), 448-455.