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Mehrsprachigkeit – Chance oder Risiko?

Über den Nutzen und das Risiko von Mehrsprachigkeit gingen bisher die Meinungen auseinander. Inzwischen weiß die Wissenschaft: Mehrsprachigkeit ist ein Segen.

 

Wenn Kinder in Familien aufwachsen, in denen beide Eltern unterschiedliche Sprachen sprechen, stellt sich die Frage, ob das Kind einsprachig oder mehrsprachig erzogen werden soll. Es konkurrieren dabei zwei Annahmen miteinander. Befürworter einer einsprachigen Erziehung sind der Meinung, dass es Verwirrung stiftet, parallel zwei Sprachen zu lernen. Anstelle eine Sprache perfekt zu beherrschen, sprechen mehrsprachig aufwachsende Kinder zwei Sprachen mehr schlecht als recht.

Derzeitiger Stand der Forschung

Verwirrung im Gehirn durch Mehrpsrachigkeit?Befürworter einer mehrsprachigen Erziehung vertreten die Meinung, dass Mehrsprachigkeit anfänglich tat-sächlich zu schlechteren Leistungen in beiden Sprachen führe, dass dieser Nachteil aber nach kurzer Zeit verschwinde. Ein weiterer Vorteil ist jedem bewusst, der im Erwachsenenalter schon einmal versucht hat, eine Fremdsprache zu lernen: Zum einen fällt das Lernen einer Fremdsprache in der Regel sehr schwer, zum anderen ist es nahezu unmöglich eine andere Sprache akzentfrei zu sprechen.
Doch wie ist der Stand der Forschung, was sind lediglich Theorien und was harte Fakten? Und welche langfristigen Folgen hat Mehrsprachigkeit?

Das spricht für eine einsprachige Erziehung

Eine Studie untersuchte die Anzahl von Wörtern, die einsprachig und mehrsprachig aufwachsende Kinder in einer Sprache beherrschen. Dabei stellte sich heraus, dass tatsächlich mehrsprachig aufwachsende Schulkinder im Durchschnitt weniger Worte kannten als einsprachig aufwachsende. Außerdem zeigte sich, dass mehrsprachige Kinder im Durchschnitt einen niedrigeren IQ (ein gängiges Maß zur Erfassung der allgemeinen Intelligenz) aufwiesen als einsprachig aufwachsende Kinder [1].

Dünne Datenlage

Eine genauere Analyse relativiert jedoch diese vermeintlichen Befunde. Untersuchungen zeigen, dass der anfänglich geringere Wortschatz innerhalb der Grundschulzeit ausgeglichen wird. Insgesamt (über alle Sprachen hinweg) haben mehrsprachige Kinder sogar einen doppelt so großen Wortschatz. Bei dem vermeintlich geringeren IQ mehrsprachiger Kinder haben die Wissenschaftler einen schwerwiegenden statistischen Fehler begangen. Dies liegt daran, dass in erwähnter Studie mehrsprachige Kinder gleichzeitig aus sozial schwachen Familien stammten, einsprachige Kinder indes aus wohlhabenderen Familien. Der Unterschied erklärt sich somit nicht durch die Frage, ob ein Kind ein- oder mehrsprachig aufgewachsen ist, sondern über die unterschiedlichen sozialen Hintergründe [1].

Das spricht für eine mehrsprachige Erziehung

So profitieren Kinder von MehrsprachigkeitWie es scheint, profitieren kindliche Gehirne sehr stark davon, wenn sie mit mehr als einer Sprache aufwachsen. Die Vorteile beziehen sich auch auf Gebiete abseits der Sprachbeherrschung. So konnte in einer Studie gezeigt werden, dass es mehrsprachigen Kinder leichter fällt, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Konkret wurde vor kleinen Kindern eine Reihe verschieden großer Spielzeuge platziert. Gegenüber des Kindes saß ein Erwachsener, dem die Sicht auf das kleinste Objekt versperrt war. In der Folge bat der Erwachsene die Kinder, das kleinste Objekt zu bewegen. Einsprachige Kinder bewegten meist das tatsächlich kleinste Objekt, das allerdings nur sie sehen konnten. Mehrsprachige Kinder bewegten hingegen öfter das kleinste für den Erwachsenen sichtbare Objekt. Mehrsprachige Kinder versetzten sich somit in die Schuhe ihres Gegenübers und integrierten die Position ihres Gegenübers in das eigene Verhalten [2].

Akzentfreies Lernen nur in der Kindheit möglich

Wenn Sie schon einmal im Erwachsenenalter versucht haben, eine neue Sprache zu lernen, wissen Sie, wie schwer dies ist. Doch auch wenn Sie nach viel Mühe die Vokalbeln und Grammatik einer Sprache beherrschen, wird Ihr Akzent Sie immer als Nicht-Muttersprachler verraten. Dies liegt daran, dass das menschliche Gehirn im Laufe des Lebens die Fähigkeit verliert, eine Sprache akzentfrei zu beherrschen.

Schutz vor Demenz

Doch auch im späteren Leben profitieren Menschen von Mehrsprachigkeit.
Die Wissenschaftlerin Ellen Bialystok hat Demenzpatienten untersucht und analysiert, ob sich der Beginn der Demenz bei ein- oder mehrsprachigen Patienten unterscheidet. Die Wissenschaftlerin konnte nachweisen, dass Menschen, die ihr Leben lang zweisprachig gelebt hatten, im Durchschnitt vier Jahre später an Demenz erkrankten als einsprachige Personen [3]. Die Wissenschaftlerin geht davon aus, dass mehrsprachige Personen in vielen Situationen den Impuls unterdrücken müssen, ein Wort nicht aus Versehen in der falschen Sprache auszusprechen.

Fazit: Mehr Chance als Risiko

Entgegen der früher verbreiteten Annahme, dass Mehrsprachigkeit zu einer Art geistigen Verwirrung in den Gehirnen von Kindern führen kann, sprechen neuere Forschungserkenntnisse eine eindeutige Sprache: Mehrsprachigkeit in früher Kindheit ist die notwendige Voraussetzung für akzentfreies Sprechen, unterstützt die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen und schützt (zu einem gewissen Grad) vor Demenz im späten Leben.

Quellen:

1: Lee, P. (1996). Cognitive development in bilingual children: a case for bilingual instruction in early childhood education. The Bilingual Research Journal. 20, 499-522.

2: Kobayashi, C., Glover, G. & Temple, E. (2008). Switching language switches mind: linguisticeffects on developmental neural bases of ’Theory of Mind.’ Social, Cognitive and Affective Neuroscience, 3(1): 62-70.

3: Bialystok, E., Craik, F.I.M., & Freedman, M. (2007). Bilingualism as a protection against the onset of symptoms of dementia. Neuropsychologia, 45, 459-464.

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