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Welche Rolle spielt die Reihenfolge der Geburt?

Sind erstgeborene Kinder wirklich intelligenter und erfolgreicher als ihre später geborenen Geschwister? Oder ist es nur ein Gerücht, dass die Reihenfolge der Geburt einen Einfluss auf das spätere Leben hat? Eine neue Studie gibt Auskunft.

Als der Psychoanalytiker Sigmund Freud und sein Kollege Alfred Adler auf das Thema der Bedeutung der Reihenfolge der Geburt zu sprechen kamen, war dies der Anfang des Endes ihrer Freundschaft. Alfred Adler, der sowohl ältere als auch jüngere Geschwister hatte, gab sich überzeugt, dass sowohl erst- als auch letztgeborene Kinder vermehrt unter Neurosen litten, da sie ständig um Dominanz und Erfolg stritten.

Freud, selbst das erstgeborene Kind, war über diese Sicht der Dinge so erbost, dass der daraus entstandene Konflikt derart eskalierte, dass sich Alfred Adler schließlich dazu entschloss, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung zu verlassen und eine eigene Vereinigung zu etablieren. Ein Grund des Gelehrtenstreits liegt auf der Hand: Aus Ermangelung an Fakten mussten sich die beiden Streithähne auf ihre Meinung verlassen.

Fakten anstelle von Meinungen

In der Zwischenzeit wurde der Bedeutung der Reihenfolge der Geburt in vielen Studien nachgegangen. Diese Studien sprechen eine scheinbar klare Sprache: Erstgeborene Kinder sind intelligenter und gewissenhafter als nach ihnen geborene Geschwister. Für die vermeintliche Überlegenheit erstgeborener Kinder gibt es unterschiedliche Theorien. Sehr verbreitet ist die Annahme, erstgeborene Kinder würden mehr 

Aufmerksamkeit und Förderung ihrer Eltern erhalten
und daher besonders intelligent werden. In weiterer Folge schlüge sich dieser Vorsprung auch in den Schulleistungen nieder und im späteren Leben durch bessere Karrierechancen.

Mängel bestehender Studien

Bei genauerer Betrachtung ergeben sich jedoch schwerwiegende Mängel in diesen Studien. Konkret gibt es zwei Ansätze, Unterschiede zwischen Geschwistern sichtbar zu machen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, Unterschiede zwischen mehreren Familien zu analysieren (Möglichkeit 1). So werden beispielsweise Durchschnittswerte der Intelligenzleistung von Erstgeborenen (über alle Familien hinweg) mit der Leistung von später geborenen Geschwistern verglichen. Der zweite Ansatz besteht darin, Unterschiede innerhalb einer Familie zwischen den Geschwistern zu berechnen. Diese Unterschiede werden dann über alle Familien hinweg ermittelt.

Zwei Verfahren mit Vor- und Nachteilen

Mögen diese Verfahren bei erster Betrachtung ähnlich erscheinen, so gehen doch mit beiden Verfahren erhebliche Probleme einher. Bei der ersten Möglichkeit ist insbesondere die Stichprobengröße ein Problem. Damit ist gemeint, dass zwischen Familien erhebliche Unterschiede in Intelligenz und Persönlichkeitseigenschaften bestehen, und dass daher Effekte der Reihenfolge der Geburt in kleineren Stichproben zufällig stark verzerrt werden können. Ein weiteres Problem ist, dass ein Zusammenhang zwischen der Intelligenz der Eltern und Anzahl ihrer 

Kinder besteht. Je intelligenter eine Person ist, desto weniger Kinder kriegt sie im Durchschnitt. Aus diesem Grund sind bei dieser Art der Betrachtung Kinder von
sehr intelligenten Eltern unterrepräsentiert, schließlich haben Kinder mit sehr intelligenten Eltern oftmals keine Geschwister und fließen daher nicht in Studien ein.

Überbetonung der Unterschiede zwischen Geschwistern

Bei der zweiten Betrachtungsweise liegt das Problem darin, dass insbesondere bei der Einschätzung von Geschwistern hinsichtlich ihrer Persönlichkeitseigenschaften, Unterschiede oftmals überbetont werden. Damit ist gemeint, dass wenn nach bestimmten Eigenschaften gefragt wird, geringe vorhandene Unterschiede stärker wahrgenommen werden. Die Tendenz, vorhandene Unterschiede zu überbetonen, verfälscht Ergebnisse von Studien mit dieser Methodik systematisch.

Neue Studie kontrolliert Faktoren

Ein Forscherteam um den Wissenschaftler Brent Roberts analysierte nun die Daten von 272.000 amerikanischen Schülern [1]. Betrachtet wurden dabei die Unterschiede über alle Familien hinweg (Möglichkeit 1). Um dem oben beschriebenen Problem entgegenzuwirken, berücksichtigten die Wissenschaftler mögliche Faktoren, die das Ergebnis verfälschen könnten. So konnte beispielsweise die Familienstruktur oder der sozioökonomische Status der Eltern (Einkommen und Bildung) in die Berechnungen miteinbezogen werden.

Ergebnisse: Unterschiede geringer als erwartet

Aufgrund der früheren Studien erwarteten die Wissenschaftler, dass auch sie zu dem Ergebnis kommen würden, dass erstgeborene Kinder ihren Geschwistern hinsichtlich Intelligenz und Gewissenhaftigkeit überlegen sind. Nach Analyse der Daten kamen die Wissenschaftler zu folgenden Ergebnissen:

– Der Zusammenhang zwischen Reihenfolge der Geburt und Persönlichkeitseigenschaften lag zwischen r = 0,0 und r = 0,04. Der Buchstabe r beschreibt den Grad des Zusammenhangs, wobei 1 ein perfekter Zusammenhang ist, bei 0 gibt es überhaupt keinen Zusammenhang.
– Der Zusammenhang zwischen Reihenfolge der Geburt und verschiedenen Aspekten der Intelligenz lag zwischen r = 0,0 und r = 0,08.

Sowohl bezogen auf Persönlichkeitseigenschaften (wie z.B. Gewissenhaftigkeit), als auch bezogen auf die Intelligenz sind Unterschiede zwischen Geschwistern, die auf die Reihenfolge der Geburt zurückzuführen sind, praktisch nicht nachweisbar. Die pauschale Aussage, dass erstgeborene Kinder intelligenter und gewissenhafter als später geborene Kinder sind, lässt sich anhand dieser Studie, nicht bestätigen. Daher lassen sich auch keine Handlungsempfehlungen bezüglich der unterschiedlichen Erziehung von Geschwistern in Abhängigkeit von der Reihenfolge der Geburt ableiten. 

Zusammenfassung: Entgegen der gängigen Meinung übt die Reihenfolge der Geburt keinen Einfluss auf die Intelligenz oder Persönlichkeitseigenschaften von Kindern aus. Frühere Studien, die einen Einfluss der Reihenfolge der Geburt nachweisen konnten, weisen erhebliche methodische Mängel auf und sind somit in ihrer Aussagekraft beschränkt.

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Quellen:

1: Damian, R. I., & Roberts, B. W. (2015). The associations of birth order with personality and intelligence in a representative sample of U.S. high school students. Journal of Research in Personality, 58, 96-105.

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