Seit Jahrhunderten streiten sich Philosophen, Soziologen und Psychologen über die Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht ist. Neurowissenschaftler sind nun der Antwort ein Stück näher gekommen. Dies wirft jedoch weitere Fragen auf.
Sind wir Menschen von Natur aus gut und werden nur durch die deformierenden Kräfte der Gesellschaft zu schlechten Menschen? Führt beispielsweise erst die Konkurrenz um die beste Note, den bestbezahlten Job und das schönste Haus dazu, dass wir lernen in anderen Menschen nichts als Konkurrenten zu sehen? Oder sind Menschen von Natur aus dreiste Egoisten, denen jedes Mittel recht ist, sich einen Vorteil zu verschaffen und die nur durch die Androhung von Strafe zu Friedfertigkeit gebracht werden können?
Streit verläuft quer durch alle Disziplinen
Quer durch verschiedene Disziplinen – Soziologie, Psychologie und Philosophie – vertreten unterschiedliche Denkschulen seit Jahrhunderten einen der beiden Ansätze. Beide Ansätze sind plausibel und lassen sich nicht ohne Weiteres von der Hand weisen. Nun versucht eine weitere Disziplin, die Neurowissenschaft, die Frage zu beantworten, ob der Mensch nun von Natur aus gut oder schlecht ist.
Neue Technologie beantwortet alte Frage
Neurowissenschaftler der UCLA (Universität Los Angeles) setzten in einer nun im Fachmagazin Human Brain Mapping veröffentlichten Studie moderne Technik ein, um unterschiedliche Hirnareale getrennt voneinander zu betrachten und somit zu analysieren, ob es Bereiche im Gehirn gibt, die Menschen altruistisch handeln lassen [1]. In der Wissenschaft wird von Altruismus gesprochen, wenn Menschen anderen etwas Gutes tun, ohne dabei auf den eigenen Nutzen zu achten.
Zuerst in die Röhre, danach spielen
Die Wissenschaftler legten die insgesamt 20 Studienteilnehmer zunächst in einen Magnetresonanztomographen (MRT), um die Hirnaktivität verschiedener Hirnareale zu erfassen. Während die Studienteilnehmer in der Röhre lagen, wurde ihnen ein Video präsentiert, auf dem zu sehen war, wie einer Person mit einer Nadel in die Hand gepikst wird. Währenddessen betrachteten die Wissenschaftler die Aktivität zweier verschiedener Bereiche des Gehirns. Der eine Bereich beinhaltet die Amygdala, den somatosensorischen Kortex und die Inselrinde – allesamt für die Empfindung von Gefühlen und Schmerzen von sich selbst und anderen Menschen verantwortlich (im Folgenden Bereich 1 genannt).
Der zweite Bereich, der analysiert wurde, besteht aus zwei Regionen im präfrontalen Kortex, der für die Regulierung von Gefühlen und das Kontrollieren von Handlungen zuständig ist (im Folgenden Bereich 2 genannt).
Diktatorenspiel
Im Anschluss sollten die Studienteilnehmer das sogenannte Diktatorenspiel spielen. Dieses Spiel kommt sehr häufig in der psychologischen und ökonomischen Forschung zum Einsatz. Vereinfacht gesagt, geht es darum, in mehreren Durchgängen zu entscheiden, wie viel Geld, das dem Spieler zur Verfügung gestellt wird, er selbst behält und wie viel er einem Fremden gibt. Im konkreten Fall konnten die Studienteilnehmer in 24 Durchgängen jedes Mal entscheiden, wie viel der zuvor erhaltenen 10 $ sie selbst behielten und wie viel sie einem Fremden gaben, von dem ihnen nur Alter und Einkommen bekannt war. In diesem konkreten Fall entsteht dem Spieler kein Nachteil, wenn er den Großteil selbst behält und dem Fremden nur einen kleinen Betrag auszahlt. Insofern ist der an einen Fremden ausgezahlte Betrag ein Maß für Altruismus.
Altruismus und Hirnaktivität sind verbunden
Nun untersuchten die Wissenschaftler, ob ein Zusammenhang zwischen der Hirnaktivität der verschiedenen Bereiche und dem Grad an Altruismus (gemessen an der Bereitschaft, Fremden im Diktatorenspiel Geld zu geben) besteht. Und tatsächlich: Studienteilnehmer, bei denen der Bereich 2 eine besonders starke Aktivierung zeigte, gaben Fremden im Durchschnitt nur 3 $. Ein anderes Muster zeigte sich bei Studienteilnehmern, bei denen der Bereich 1 einen besonders hohen Grad an Aktivierung zeigte: Sie gaben Fremden im Durchschnitt 7,50 $.
Interpretation der Ergebnisse
Bereich 1 ist unter anderem dafür verantwortlich, Gefühle und Schmerzen anderer Menschen wahrzunehmen. Je stärker dieser Bereich aktiviert wird, so die Annahme, desto stärker nimmt eine Person die Gefühle und Schmerzen anderer Menschen wahr. Mit anderen Worten: Je stärker Bereich 1 aktiv ist, desto mehr löst sich die Unterscheidung zwischen eigenem Wohlbefinden und dem Wohlbefinden einer anderen Person auf. Anderen Menschen zu helfen, ist für diese Person eine Art, das eigene Unwohlsein zu reduzieren. Spiegelbildlich verhält es sich bei Personen mit einem stark ausgeprägten Bereich 2. Ihnen fällt es leicht, ihre Emotionen zu kontrollieren, somit werden auch die Gefühle und Schmerzen anderer Personen weniger stark wahrgenommen.
Welche Denkschule hat Recht?
Was sagen uns diese Ergebnisse nun hinsichtlich des eingangs erwähnten Streits der Denkschulen? Zum einen ist die Annahme, Menschen seien immer und von Natur aus egoistisch, sicher nicht haltbar. Wäre Altruismus nicht wichtig, gäbe es keine Hirnbereiche, die auf die Wahrnehmung von Gefühlen und Schmerzen anderer Menschen spezialisiert sind. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele Menschen Hirnaktivitäten zeigen, die ihren Altruismus unterdrücken. Ob die Eigenschaft, den eigenen Altruismus zu unterdrücken jedoch angeboren oder antrainiert ist, kann mit den vorliegenden Ergebnissen nicht hinlänglich beantwortet werden. Bis zukünftige Forschungen Klarheit schaffen, können beide Denkschulen folglich auf ihrem Standpunkt beharren.
Quellen:
1: Christov-Moore, & L., Iacoboni, M. (2016) Self-other resonance, its control and prosocial inclinations: Brain–behavior relationships. Human Brain Mapping, doi: 10.1002/hbm.23119